Von Berlin aus mit dem Zug bis nach Sizilien, schöner kann man nicht reisen.
Als ich aus dem aus Mailand kommenden Zug in Rom aussteige, helfe ich einer Nonne dabei ihre schweren Koffer aus dem Zug auf den Bahnsteig zu heben. Es dauert drei Sekunden bis ein göttlicher Akkord in mir erklingt: Rom – Papst – Nonne! Wie sonst sollte meine Ankunft in Rom vonstattengehen. Erleuchtet von meiner Erkenntnis warte ich darauf, dass mir die Dame ein „Gott segne Sie“ hinterherruft , aber vielleicht ist das selbst in der Heiligen Stadt etwas viel verlangt. Ich höre bloß die Ansage über den Bahnhof scheppern, die die Anschlusszüge runterrattert – auch hier kein Urbi et Orbi. Etwa 30 Stunden später steige ich aus einem Regionalzug am heruntergekommenen Hauptbahnhof in Catania und schwimme mit der kunterbunten Welle ankommender Fahrgäste in Richtung Ausgang, als mich exakt dort zwei Polizisten nach meinem Ausweis fragen. Meine Empörung hält so lange an bis ich brauche, um an die unzähligen Fälle von Racial Profiling bei grenzüberschreitenden Zugfahrten in Europa zu denken. Diese Momente, in denen uniformierte Beamt:innen zielgerichtet all jene nach ihren Papieren fragen deren Hautfarbe ins dunkle tendiert, sich nicht selten noch einen Blick ins Reisegepäck genehmigen und dann das Vorhandensein einer Mango zum Anlass bohrender Fragen nehmen. Ich lasse das Procedere nur zu gerne über mich ergehen, fest davon überzeugt, dass die Welt damit einen Mikromillimeter mehr in Richtung Gerechtigkeit rutscht. Also dann, arrividerci, Signori! Ich ziehe meinen Kiloschweren Koffer über die Asphaltwüste des Bahnhofsvorplatzes bei 35 Grad… im Hintergrund dampft die gutmütige Vulkanin Etna und ich wittere den Duft von Arancini.
Ich reise mit dem Zug von Berlin nach Sizilien, weil ich in Donnalucata unten am Ende Europas eine kleine Foto-Ausstellung mit Fotografien vergangener Sizilienaufenthalte haben werde. Die gerahmten Fotos nehmen die Hälfte meines Koffers ein und wiegen 4,5 Kilogramm – netto. Ohne die mehreren Schichten Pappe und Folie, in die ich sie dann noch einwickelte. Das geht schon, dachte ich mir. Der Koffer hat ja Rollen. Als meine eh schon affenartig langen Arme beim Ziehen des Dings über die Kopfsteinpflaster und Schlaglöcher meiner Zwischenstationen Mailand, Rom und Catania noch ein Stück länger werden, während mir in der ersten italienischen Hitzewelle des Sommers selbst morgens um halb acht schon der Schweiß in einem kleinen Rinnsal den Rücken runterläuft, schwanke ich zwischen Stolz und Selbstmitleid, wobei am Ende immer der Stolz siegt. Denn genau das war der Plan: Die Fotomotive, die ich dieser bezaubernden Insel über die Jahre hinweg abgetrotzt habe, will ich persönlich zurück an den Ort ihrer Entstehung bringen, um etwas zurückgeben auf eine gänzlich analoge Art und Weise – da passt ein wenig Schweiß ganz gut in die Erzählung.
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Das Projekt ist zugegeben etwas sentimental. Sizilien ist mir zu einem Sehnsuchtsort geworden, an dem Erinnerungen unterschiedlicher Lebensphasen kleben wie Fruchtfliegen an einem halb vollen Glas Chinotto.
In diesem Frühjahr dann wählte ich vier handvoll Motive aus, deren Stimmung zu dem Song „Sapore di Sale“ des italienischen Sängers Gino Paoli passen, und gab der Ausstellung eben diesen Namen. Paoli schrieb den Song 1963 an einem verlassenen sizilianischen Strand und beschreibt darin etwas, dass sich vielleicht mit Melancholie des Urlaubs übersetzen lässt. Lange Tage am Strand, der Geschmack von Salz und Meer auf den Lippen, Gedanken an ferne Orte und Zeiten, ein nasser Körper, der sich aus dem Meer kommend einer Umarmung hingibt. Der große Ennio Morricone arrangierte das Stück und nahm es mit einem Orchester in Rom auf. Es wurde ein Klassiker.
Wer mit dem Zug durch die Gegend fährt, der erlebt nicht nur Racial Profiling sondern auch ein gesundes Verhältnis für Distanzen und ein anderes Bewusstsein für das unterwegs sein. In diesem Jahr führten mich die Schienen bereits nach Venedig und Marseille. Jetzt kann ich mir natürlich gut vorstellen, dass die Leser:innen dieses Beitrags sich fragen ob der Typ noch bei Trost ist. Im heißen 9-EURO-Ticket Sommer mit der Bahn, die selbst auf der 45-minütigen Strecke von Frankfurt am Main nach Mannheim immer mindestens 10 Minuten Verspätung einsammelt, knapp 2.000 Kilometer durch Europa fahren? Tatsächlich ist es aber so: Jenseits der Grenzen beginnt wenigstens in Italien, der Schweiz und Frankreich eine neue Zeitrechnung in Sachen Bahnfahren. Rücksichtsvolle Fahrgäste, unaufgeregtes Zugpersonal und eine irritierende Pünktlichkeit. An keinem meiner Reiseziele traf ich mit Verspätung ein. Die 15 Minuten Verspätung, die der Eurocity von Frankfurt/Main nach Mailand auf der Hinfahrt auf deutschem Boden hatte, hat der Zug in der Schweiz in kürzester Zeit wieder wettgemacht. Mir ist die mangelnde Empirie dieser punktuellen Beobachtungen bewusst, aber es fühlt sich einfach zu gut an, um die Sache hier an dieser Stelle mit Pünktlichkeitsstatistiken zu relativieren.
Von Frankfurt am Main aus also Richtung Mailand durch die Schweizer Alpen, vorbei an den grünen Seen und durch endlose Tunnel, bis dann irgendwann die ersten Palmen und Zitronenbäume am Fenster vorbei huschen, die Halte nicht mehr Spiez sondern Domodossola heißen, und ich vom „geschätzten Fahrgast“ zum „gentile viaggiatore“ wurde, im Hintergrund schlummern die schneebedeckten Bergspitzen. In den sieben Stunden Fahrtzeit ist es mir ummöglich in einem der drei Bücher zu lesen, die ich im Gepäck habe. Zu einzigartig ist der Ausblick.
Am nächsten Morgen in Mailand das obligatorische Frühstück in der nächstgelegenen Bar. Caffè und ein Croissant mit Vanillecreme. Es ist noch keine 7.30 Uhr, wie überall in Italien so kommen auch hier für einen kleinen Moment am Tresen alle zusammen, deren Leben sonst in parallelen Blasen verlaufen: Die zwei Bauarbeiter von der Baustelle gegenüber, der ältere Herr im Leinenanzug, der Yuppie mit seinem Tretroller, die junge Frau mit der Yogamatte, das Paar mit dem Hund und ich, der Tourist. Wenig später im Schnellzug von Mailand nach Rom, der für die 600 Kilometer Strecke weniger als drei Stunden braucht, blicke ich zunächst auf die Ebenen der Lombardei und dann auf die sanften Hügel der Toskana während zig italienische Geschäftsreisende in gebügelten weißen Hemden in ihre Headsets sprechen, was ob des italienischen dennoch wie Musik für mich klingt. Ankunft in Rom vor 13 Uhr – genügend Zeit für ein spätes Mittagessen, Gelato, Aperitivo, Abendessen und ein Spaziergang am Tiber im Sonnenuntergang.
Am Tag darauf dann weiter mit dem Zug nach Villa S. Giovanni ganz am Ende des Stiefels von wo aus dann das Schiff für zwanzig Minuten durch die Meerenge nach Messina fährt, begegnet mir im Zug und vor dessen Fensterscheiben dann dieses gänzlich andere Italien, das sich südlich von Rom hunderte Kilometer lang erstreckt. Auf der einen Seite stundenlang das blaue Mittelmeer, hin- und wieder ein kleiner Strand mit kunterbunten Sonnenschirmen und braungebrannten älteren Herren in sehr kurzen neonfarbenen Badehosen, die im Meer stehen statt schwimmen, gelegentlich ein Eiswagen und eine Strandbar. Blicke ich aus den Fenstern auf der anderen Seite des Waggons weicht die sanfte und geordnete Bebauung der Toskana mit ihren kleinen Dörfern mit Kirchturm in der Mitte nun den pragmatischen Mehrfamilienhäusern und Bauruinen dieser von Korruption zersetzen Gegenden in Kampanien und Kalabrien. Unter den Passagieren findet man niemanden mehr in weißem Hemd und Anzug. Stattdessen ein paar Tourist:innen, ein paar Rentner:innen, Student:innen auf dem Weg nach Neapel oder Salerno. Kein Flug und auch keine Fahrt auf der Autobahn lässt einen diese graduelle Verwandlung Italiens von Nord nach Süd so gut erleben wie die Zugfahrt.
Die letzten knapp zwei Stunden im Regionalzug von Messina nach Catania liefern dann ein betörendes Finale. Im Landesinneren bläst die Etna ihre Rauchwolke in den vor Hitze flirrenden opaken Himmel. Davor Zitronen- und Orangenbäume. Zu meiner Linken ist das Meer nun noch einmal blauer geworden, der wie gemalt wirkende Bahnhof von Taormina/Giardini fühlt sich an wie ein Halt in einem Wes Anderson Film. Und dann wird es schlagartig bei der Einfahrt und Ankunft in Catania noch einmal ganz hässlich, bis ich dann den Koffer nach 20 Minuten Fußmarsch in die Via Etnea ziehe, im Hintergrund die allgegenwärtige Vulkanin, vor mir die Gärten des Bellini Parks, in meiner Hand ein Arancinù, das man hier mit ù am Ende schreibt und nicht wie in Palermo mit o oder weiter südlich hier im Westen wieder mit a, weil frittierte Reisbällchen nun mal auf einer an Geschichte reichen Insel eben kein eindeutiges Geschlecht haben. Anders bei der Vulkanin, die hier für alle weiblich ist, weil angeblich nur Frauen so viel Energie haben. Ich hätte hier in knapp drei Flugstunden sein können. Aber der Moment der Ankunft hätte sich anders angefühlt.
Am kommenden Morgen tausche ich die Schienen gegen einen Mietwagen ein, um Richtung Donnalucata im Süden zu fahren. Entlang der Autobahn brennen die Büsche in der Hitze, aber am Meer angekommen kühlt ein Wind Natur und Gemüt. Bunte Sonnenschirme stehen Spalier. Ich habe zwei Tage um die Ausstellung vorzubereiten, ich packe die gerahmten Bilder aus und trage sie am Strand entlang zum Ausstellungsort, dem wunderbaren Restaurant Il Consiglio di Sicilia, benannt in Anlehnung an den Roman Il Consiglio d’Egitto von Leonardo Sciascia. Die Fotos hängen wir an den Ästen der Johannisbrotbäume auf der Terrasse auf, darunter werden an einer langen Tafel die Gäste sitzen, köstlichen Frappato trinken und geräucherten Thunfischschinken essen. Alles wird in der Tat, ein wenig den Geschmack von Salz haben.
Am Abend der Ausstellungseröffnung verirrt sich eine junge Journalistin von der örtlichen Lokalzeitung zu der Ausstellung, hält mir ihr Smartphone im Aufnahmemodus ins Gesicht und fragt mich sinngemäß was ich mir bei der Sache eigentlich gedacht habe. Unvorbereitet zögere ich ihr die „Sapore di Sale“ Story zu erzählen. Zum einen, weil ich vermute das Sie nicht zwingend zur Generation Ennio Morricone gehört, zum anderen, weil sie bestimmt extrem woke ist und mir kulturelle Aneignung vorwerfen könnte, weshalb ich auch noch schnell den obersten Knopf meines Hemdes zuknöpfe. Weil ich keine andere Story zu meiner Verteidigung auf Lager habe setze ich dann doch zu meiner „Sapore die Sale“ Erklärung an und während ich den Refrain zitiere nickt sie freudig mit großen Augen und erklärt das in Italien doch jeder diesen Song kenne… Zurück in Berlin lese ich ihren Artikel: Inspiriert von Gino Paoli gibt ein Berliner Fotograf Sizilien etwas zurück, steht dort sinngemäß. Ich habe den Koffer mit den Fotos also keinen Meter umsonst in Richtung Süden gezogen.